Schreiben von Anwalt Marcel Bosonnet zur Raumvermietungsweigerung von Zürich
Sehr geehrter Herr Stadtrat Raphael Golta, Zürich, 29.2.2024
Ich schreibe Ihnen im Namen und im Auftrage … der Marxistischen-Leninistischen Gruppierung Schweiz (vergleiche beiliegende Vollmacht).
Die Leiterin Soziokultur 3,4,5 teilte … mit, dass das Gesuch um Vermietung der Räume im Quartierzentrum Bäckeranlage für eine Veranstaltungsreihe Marxistische-Leninistische Gruppe Schweiz (MLGS) abgewiesen werde.
Sie begründet ihren Entscheid damit, dass die MLGS gemäss deren Gründungsresolution vom Mai 2009 einen politischen Umsturz anstrebe, der auch Gewalt in Kauf nehme und der Staatsordnung der Schweiz und deren Grundrechten zuwiderlaufe. Damit sei Art. 3.2 der Vermietungsrichtlinien (im Folgenden Richtlinien) verletzt, der besage, dass die Vermietung an Einzelpersonen oder Gruppierungen verweigert werden könne, wenn deren Ziel oder Angebote rassistisch, sexistisch, gewaltverherrlichend oder in einer sonstigen Art ausgrenzend sind und/oder der demokratischen Grundordnung zuwiderlaufen. Ebenfalls betroffen seien Einzelpersonen oder Gruppierungen, deren Ziele und Angebote die Bevölkerung derart polarisieren, dass mit massiven Störungen des Angebotes oder des Betriebes zu rechnen sei.
Tatsache ist jedoch, dass der fraglichen Gründungsresolution die MLSG keine Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zu entnehmen ist. Vielmehr steht in der Gründungsurkunde: «Die Arbeiterklasse wünscht, dass sich diese Revolution ohne Gewaltanwendung durchsetzen lässt.» (S.8) Die Behauptung ist somit tatsachenwidrig.
Weiter wird die Verweigerung der Vermietung damit begründet, dass in einem Flyer der MLSG der «antisemitisch verstandene» Slogan «Socialism from the river to the sea» enthalten sei.
Tatsächlich steht auf dem Flyer: Socialism from the river to the sea! The Israeli and Palestinian people will be free! Workers and oppressed peoples of all countries unite!» Daneben ist ein Bild eingefügt, in dem sich eine israelische und eine palästinensische Hand die Hände reichen.
Der Satz „vom Fluss zum Meer“ – oder auf Arabisch „min al-nahr ila al-bahr“ – stammt aus den Anfängen der palästinensischen Nationalbewegung in den frühen 1960er Jahren, d.h. etwa ein Vierteljahrhundert vor der Gründung der Hamas. Er wurde innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) populär als Aufruf zur Rückkehr zu den von den Briten kontrollierten Grenzen Palästinas, in denen vor der Gründung des jüdischen Staates Israel im Jahr 1948 sowohl Juden als auch Araber gelebt hatten.
Der Slogan widerspiegelt die Geografie des ursprünglichen Anspruchs: Israel erstreckt sich über den schmalen Landstreifen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Doch die Popularität des Slogans hielt an, selbst als sich die territorialen Ansprüche verschoben, nachdem die PLO in den 1990er Jahren in Friedensverhandlungen eintrat, das Existenzrecht Israels formell anerkannte und durch die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde zur Regierungsgewalt gelangte.
Die israelische Likud-Partei, die von Premierminister Benjamin Netanjahu angeführt wird, hatte in ihrem ursprünglichen Wahlprogramm von 1977 einen ähnlichen Slogan aufgenommen, der besagte, dass es „zwischen dem Meer und dem Jordan nur israelische Souveränität geben wird“.
Im Laufe der Jahre wurde dieser Slogan auch von der Hamas übernommen, die zur Vernichtung Israels aufruft. Die Hamas verwendet somit diesen Aufruf nicht mehr im ursprünglichen Sinn, resp. dem Satz werden unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben.
Daraus geht hervor, dass der Slogan «From the river to the sea» je nach Kontext sehr unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. Im vorliegenden Fall hat die MLGS diesen Slogan durch den Zusatz, dass dieses Gebiet sozialistisch sein solle, ergänzt und dadurch gleichzeitig in der Aussage beschränkt. Eine Interpretation im Sinne der Hamas ist damit ausgeschlossen.
„Es ist durchaus möglich, dass beide Völker zwischen dem Fluss und dem Meer frei sind“, sagte Ahmad Khalidi, ein Forscher an der Universität Oxford, der in den 1990er Jahren an den arabisch-israelischen Friedensverhandlungen beteiligt war, über Palästinenser und Juden. «Ist ‚frei‘ an sich zwangsläufig völkermörderisch? Ich denke, jeder vernünftige Mensch würde nein sagen. Schliesst es die Tatsache aus, dass die jüdische Bevölkerung in dem Gebiet zwischen Meer und Fluss nicht auch frei sein kann? Ich denke, jeder vernünftige Mensch würde auch hierzu nein sagen.»
Peter Beinart, Professor an der City University of New York erklärte deshalb zu Recht, dass die Bedeutung des Satzes „vom Kontext abhängt“. „Wenn es von einem bewaffneten Hamas-Mitglied kommt, dann würde ich mich bedroht fühlen“, sagte Professor Beinart, der Jude ist. „Wenn es von jemandem kommt, von dem ich weiss, dass er eine Vision von Gleichheit und gegenseitiger Befreiung hat, dann nein, dann würde ich mich nicht bedroht fühlen. (vergl. New York Times vom 12. November 2023 In Congress and on Campuses, ‘From the River to the Sea’ Inflames Debate)
Um jeglichen Zweifel am Inhalt dieses Satzes auszuräumen und den Kontext zu klären, fügte die MLGS folgenden Zusatz an:
The Israeli and Palestinian people will be free! Workers and oppressed peoples of all countries unite!» und zeigte zusätzlich symbolisch, dass sich Israelis und Palästinenser friedliche die Hand reichen. Dies kann unmöglich als antisemitisch bezeichnet werden. Auch ein Vergleich mit der Hamas verbietet sich.
Der Vorwurf, dass der von der MLGS verwendete Slogan antisemitisch ist, stellt deshalb letztlich eine Ehrverletzung dar. Die Bezeichnungen „Antisemit“, „antisemitische Äusserungen“, sind nach geltender Rechtsprechung geeignet, eine Person im Ansehen der Mitmenschen empfindlich herabzusetzen, wird ihr doch auch ein sozial missbilligtes Verhalten in Gestalt von rechtsstaatlich bedenklichem Handeln vorgeworfen (vgl. BGE 138 III 641 E. 3). Somit wurde der Ruf der MLGS bzw. deren Vertreter als ehrbare Personen durch diese Aussagen der Beschuldigten geschädigt.
Zusammenfassend ist deshalb festzuhalten, dass die Verweigerung der Vermietung der Räumlichkeiten das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 10 und 11 EMRK verletzt.
Art. 14 EMRK verbietet Diskriminierung der von der EMRK anerkannten Rechte und Freiheiten. Diskriminierung bedeutet dabei, dass eine Person in einer analogen oder einer hinreichend ähnlichen Situation bevorzugt oder benachteiligt, jedenfalls unterschiedlich behandelt wird. Die Umstände, die miteinander verglichen werden, sollen dabei gleich oder zumindest ähnlich sein sowie im Vergleich zueinander massgeblich (relevant). Die Stadt Zürich hat bei der Vermietung der Räumlichkeiten das Gleichbehandlungsgebot (Ar. 29 Abs. 1 BV) zu beachten.
Im vorliegenden Fall wird die MLGS aufgrund ihrer politischen Haltung diskriminiert und dabei konkret benachteiligt, da sie die Räume nicht mieten darf, die anderen Personen mit anderer politischer Gesinnung vermietet werden. Dabei ist zu beachten, dass die durch vorgebrachten Gründe, die eine Verweigerung im Sinne der Richtlinien rechtfertigen würden, nicht vorliegen.
Ich ersuche Sie deshalb, das Gesuch der MLGS um Miete der Räumlichkeiten für eine Veranstaltungsreihe zu bewilligen.
Mit freundlichen Grüssen
Marcel Bosonnet
(betroffene Personennamen wurden im Text entfernt. Die Red.)